Wir steigen vor Sonnenaufgang auf 3.800 Metern Höhe. Oben verlaufen die Pfade ohne große Höhenverluste. Wir meiden begangene Wege und richten uns nach den Vorgaben des Geländes. Wir haben die Anweisung nicht zu sprechen, wenn wir vor einer Mulde oder vor einem nicht einsehbaren Hang sind. Unter uns liegen drei flache Teiche. „Fällt jemand etwas auf?“ Die Frage kommt in gedämpftem Ton. Uns fällt nichts auf. „Zwei Teiche sind klar, der andere ist lehmig-trüb. Das Wasser ist aufgewühlt, das ist ein Badeteich.“ Wir gehen in Deckung, legen uns flach. Kurz darauf strebt eine kleine Gruppe Hirschkühe mit ihren Kälbern den Teichen zu. Die Mütter locken ihre Kinder mit ganz sonderbaren Rufen, wenn diese zu sehr hinterhertrödeln. Alle laufen in den Lehmtümpel und spielen. Ich hätte es nicht geglaubt, wenn ich es nicht selbst gesehen hätte. Die Tierkinder spielen im Wasser Nachlaufen, wie Menschenkinder.

Bald darauf stoßen wir auf eine große Herde, die vor uns flüchtig wird. Ein aufregendes Bild. Gut hundert Wapitis geraten in Bewegung und wissen nicht, welche Richtung sie einschlagen sollen. Die Hirschkühe führen ihre Kitze nach. Es ist gewaltig. Wir sind nicht die einzigen Zuschauer. Auf einem Schneefeld entdecken wir zwei große Präriewölfe, die wohl hoffen, ein Kitz abgreifen zu können. Sie haben Pech, wir geraten zwischen die beiden Parteien.
Drei Tage später: Ein Sprung Wapitis, etwa vierzig Stück, geht vor uns hoch und flüchtet. Ein Tier bleibt liegen. Als wir auf wenige Meter heran sind, rätseln wir, ob das Tier vielleicht krank ist oder ob es sich um eine gebärende Hirschkuh handelt. Aber dafür ist es eigentlich zu spät im Jahr. Plötzlich geht das Tier hoch und prescht davon. Es hatte regelrecht verschlafen! Es war in der kurzen Phase des Tiefschlafs.
Wir sehen täglich Hochwild, Murmeltiere, Schneehühner und viel Kleingetier. Drei Wochen später treten wir schweigend aus einem schwer begehbaren Bergwald – wir laufen auf Wildwechseln – als zwanzig Schritte vor uns zwei Elchbullen im Weidengestrüpp stehen. Der Wind steht gut, wir können sie lange beobachten. Lukas macht unserem Fahrtenführer ein Zeichen, er solle doch die Kamera hervorholen. Der schüttelt den Kopf. Später befragt warum er nicht fotografieren wollte, antwortet er: "Ich raube mir doch nicht den Augenblick." Wir machen uns den Elchen schließlich vorsichtig bemerkbar, denn wir müssen passieren. Mit großer Leichtigkeit und Eleganz traben die schweren Bullen in den Wald.
Aber das ist noch nicht der Höhepunkt. Neun Tage drauf steigen wir nach der Mittagsrast in einem ausgedehnten Espenwald bergauf. Plötzlich sehen wir vor uns auf dem Pfad ein Tier, das wir erst für einen Luchs halten. Es läuft in dieselbe Richtung wie wir, die wir jetzt still verharren. Die Katze wendet sich nach links und zeigt nun ihre Breitseite. Es ist ein Berglöwe. An den Ohren und der Schwanzspitze spielt die lehmgelbe Färbung ins Schwarz. Lautlos taucht der Puma im Walde unter.
Nach drei Wochen fängt man an, sich zugehörig zu fühlen. Die Tiere werden so etwas wie gleichberechtigte Mitwesen. Unsere Lebensbedingungen haben sich angenähert.
Anstrengungen, schweres Gepäck, die niedrigen Temperaturen von nur zehn Grad Celsius und die Schlechtwetterlagen, der Hunger, all das ist nun nicht mehr gegenwärtig. Geblieben ist das, was die Augen aufnehmen konnten.

Daniel

Nerother-Amerikafahrten
im Wandel von 30 Jahren

Meine erste Amerikafahrt liegt genau dreißig Jahre zurück. Wir waren ein halbes Jahr unterwegs und arm wie die Kirchenmäuse. Ich mußte mir den Rückflug mit harter Bauarbeit verdienen und war zeitweise auf die Mahlzeiten der Heilsarmee angewiesen. Aber die Abenteuerlichkeit dieser Fahrt, besonders in ihrem mexikanischen Abschnitt, gäbe auch Stoff für einen Abenteuer-Roman. Damals entdeckten wir Nordamerika als Großfahrtenland für Schülerfahrten. Ein Jahr später startete die erste Gruppenfahrt, drei Jahre später folgte die erste Schülerfahrt ohne Altersbegrenzung nach unten. Der jüngste Mitfahrer war zwölf Jahre alt. Alle Jungen mußten den langen Rückweg nach New York, von der mexikanischen Provinz Veracruz aus, in Zweiergruppen per Anhalter bewältigen. 1978 folgte die erste Wildnisfahrt in Alaska, mit dem Rücktramp von Küste zu Küste. Die Mindestdauer aller Fahrten war mit sechs Wochen angesetzt, zwei dauerten länger als vier Monate. 1985 wurde eine Fahrt mit der Altersbegrenzung ausgeschrieben: „Von 14 bis 100.“ Von den ersten 16 Anmeldungen hatten vier Teilnehmer das achtundsechzigste Lebensjahr überschritten.
Wir durchzogen den Kontinent in den vergangenen Jahren von Alaska bis Mexiko und von Oregon bis Vermont. In den letzten Jahren entwickelten sich die Schülerfahrten zu reinen Hochgebirgsfahrten, mit dem Charakter von Wildnisfahrten. Das brachte eine unglaubliche Fülle von Tier-Begegnungen, vom Waldhuhn und Fischotter bis hin zu Elch, Puma, Wolverine und Grizzlybär. Das fordert aber auch von den Jungen die Bereitschaft zu vielstündigen Märschen bei jedem Wetter und die Bereitschaft Hunger zu ertragen. Jede Fahrt schließt auch Trampstrecken ein, für die teilweise mehrere Tage angesetzt werden. Die Weitergabe dieser langjährigen Erfahrungen hat inzwischen auch zu vielen selbständigen Fahrten der Gruppen geführt, die ohne Hilfestellung des Bundes stattfinden. Die extreme Form, mir immer noch die liebste, bleibt nicht ohne Risiko und ist ohne Landeskenntnisse nicht durchführbar.
In diesem Jahr hatten sich zwei Gruppen angemeldet, der jüngste Mitfahrer war dreizehn Jahre alt. In all den Jahren hat es keine nennenswerten Unfälle gegeben und nur einen Krankheitsfall. In diesem Jahr führte ich die dreiundzwanzigste bundesoffizielle Amerikafahrt der Nerother, die wegen der unterschiedlichen Landesferien zehn Wochen dauerte und wechselnde Gruppen umfaßte.

F.M.



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