Warum wir keine "E-Mail" haben

Wir haben nicht nur keine "E-Mail-Adresse", wir messen auch dem "Internet" wenig Bedeutung zu.
Unsere Kenntnis der gruppen-"bündischen" Wirklichkeit zeigt uns, daß vergleichbare Gruppierungen auf ihren Seiten potemkinsche Dörfer errichten. Rucksacktouristische Freizeitaktivitäten Einzelner werden in Gruppenleistungen umgefälscht, ohne die materiellen Hilfsmittel preiszugeben, Zahlen werden manipuliert, es wird geschönt, getürkt, gefälscht. Der Verführung durch ein unkontrollierbares Darstellungspodium wird nachgegeben, mit anderen Worten: in den meisten Fällen ist die Selbstdarstellung nicht durch "innere Wahrhaftigkeit" gedeckt, sie ist Produkt-Werbung!

Zudem sitzen auf der einen Seite allzu häufig Besessene, die lediglich zur Befriedigung ihrer Eitelkeit Selbstdarstellung betreiben, während auf der anderen Seite solche sitzen, die der unverbindlichen Unterhaltung wegen ins Netz gehen.

Wollten wir über dieses Netz kommunizieren, so ließen wir uns auf anonyme Gesprächspartner ein, denen wir in der realen Welt von Angesicht zu Angesicht unter Umständen nicht einmal die Hand reichen würden! Dazu ist unsere Lebenszeit zu knapp bemessen und das würde auch unserer Lebensauffassung entgegenstehen.

Diese Art der Einbindung in das technische Medium "Internet" brächte uns zudem, bei Betrachtung der Gesamtwelt, der Lage eines Patienten einer Intensivstation näher, der ohne zwischengeschaltete Technik nicht mehr leben kann. Wir haben also für uns Grenzen zu ziehen. Der "Wandervogel" als Idee verliert an Substanz, wo immer er ein Stück Unabhängigkeit aufgibt.

Wir kennen auch die landläufigen Argumente, aber wir wissen trotzdem von Sokrates und Aristoteles, obwohl es damals noch keinen Gutenberg gab. Unsere Überzeugung geht dahin, daß wir der menschlichen Begegnung und dem persönlichen Gespräch Vorrang zu geben haben. Unsere Überzeugung geht dahin, daß wir die menschliche Tragfähigkeit unseres Gegenüber prüfen dürfen, bevor wir uns auf inhaltliche Gespräche einlassen. Unsere Überzeugung geht dahin, daß der Wert unserer Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft und den damit Verbundenen Aktivitäten keines Beifalls von außen bedarf, und dass es nicht unsere Aufgabe ist, die Beliebigkeit einer öffentlichen Unterhaltung zu stärken. Wir sind nicht exhibitionistisch und wir haben keine Lebenszeit zu verschwenden.

Also haben wir auch keine "E-Mail", sichern lediglich unsere Namensrechte vor Missbrauch, geben dem ernsthaften Interessenten die Möglichkeit, das Gespräch zu suchen, nehmen Briefe entgegen und verweisen auf weiterführende Literatur.

Burg Waldeck im Dezember 2002, Fritz-Martin Schulz, Nerother Wandervogel